Prof. Dr. Matthias Franz

  

„Psychotraumatologische und psychoanalytische Aspekte der Jungenbeschneidung“, Prof. Dr. Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf, Stellvertretender Direktor des klinischen Institutes Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (UKD)

 

Was tun wir unseren Kindern da eigentlich an? Diese Frage wird seit dem Kölner Urteil 2012 zunehmend auch von Eltern gestellt, die Angehörige einer Beschneidungsreligion sind. In der durch das Urteil ausgelösten Debatte um die medizinisch nicht indizierte Beschneidung von Jungen geht es - völlig analog zur Genitalbeschneidung-/verstümmelung von Mädchen - um den Konflikt zwischen dem Recht Erwachsener auf freie Religionsausübung und dem Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung.

Die Heftigkeit der Debatte beruht auf tiefgreifenden Ängsten. Das liegt zum einen an der Beschneidung selbst. Die an dieses Ritual geknüpfte Kastrationsangst ist die vielleicht stärkste Angst, die Jungen in einem bestimmten Entwicklungsalter und auch Männer überhaupt empfinden. Mit ihr verbundene Denkverbote und Verdrängungsreflexe erschweren die Wahrnehmung von Fakten und tragen zu einer angstverzerrten Verhaltenssteuerung bei. Angst wird auch ausgelöst durch die Bedrohung der eigenen Identität oder die der sozialen Bezugsgruppe. Genau dies geschieht den Verfechtern der Beschneidung bei der säkularen Infragestellung ihrer religiöser Ritualtraditionen. Aber auch die säkularen Kritiker der rituellen Beschneidung haben Angst. Sie fürchten die Beschädigung menschenrechtlicher Grundlagen und des staatlichen Gewaltmonopols durch rational nicht zu begründende klerikale und religiöse Machtausübung über Kinderkörper. Sie sehen in der heutigen Gesellschaft keinen Platz mehr für uralte Verletzungsrituale, wenn sie Kinder betreffen, die sich nicht frei entscheiden oder wehren können. Sie bezweifeln, ob Eltern wirklich immer wissen, was sie tun. Und ob es Eltern auch heute noch erlaubt sein soll im Namen ihrer Religion oder einer anderen Überzeugung kindliche Körper zu verletzen. Diese Sichtweise reflektiert eine wachsende Sensibilität der Öffentlichkeit für die Schutzbedürfnisse von Kindern gegenüber jeglichen Übergriffen durch Erwachsene.

Die jetzt gültige gesetzliche Regelung der Jungenbeschneidung wurde vor dieser Angstkulisse und unter großem politischen Druck ohne wirkliche Diskussion beschlossen. Und sie ist in vielerlei Hinsicht widersprüchlich. So sind beispielsweise Fragen der Schmerzbetäubung, der Fachkunde und der Haftung für Komplikationen nicht eindeutig geklärt oder thematisiert. Die verfassungsrechtlich bedenkliche Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen und die resultierende genitale Diskriminierung von Jungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes sind weiterhin ungelöste Probleme. Vor allem aber wurden und werden die von einer rituellen Beschneidung leidvoll betroffenen Opfer nicht ausreichend gehört und die möglichen Risiken der Vorhautamputation klein geredet. Dieser Aspekt soll daher aus entwicklungspsychologischer und psychoanalytischer Sicht thematisiert werden.